
Beim Schreiben dieser Zeilen bewegt sich das Flugzeug, in dem ich sitze, irgendwo zwischen der Türkei und dem Irak. Unter mir ziehen karge Berge vorbei, auf deren Spitzen noch Schnee liegt. In den Tälern hingegen herrscht Trockenheit – durchzogen von ausgetrockneten Flussbetten, die stumm von besseren Zeiten erzählen.
Wie anders wirkt dagegen Maui: Dort ließ die Natur ein Feuerwerk ihrer Schönheit auflodern, als wolle sie zeigen, wozu sie fähig ist. Vielleicht gilt genau deshalb eine immergrüne Insel wie Maui für so viele Menschen als Inbegriff des Paradieses.
Doch beim genaueren Hinsehen merkt man schnell, dass Maui alles andere als ein Paradies ist – es sei denn, man ist weiß und wohlhabend.
In Kihei habe ich Nancy getroffen. Wir kamen ins Gespräch, und ich hörte ihr eine ganze Weile zu. Sie lebt derzeit ohne Wohnung und ohne festen Job auf Maui. Es war unglaublich spannend, ihren Erzählungen zu lauschen und mit ihr zu diskutieren.
Die USA haben sich verändert: Ahnungslos auf Hawaii
Wir sind relativ spontan nach Hawaii geflogen und hatten uns vorher kaum mit den Inseln oder den Lebensumständen dort beschäftigt.
Schon unser erster Besuch im Walmart ließ uns schlucken. Die Preise für Lebensmittel waren auf Maui erschreckend hoch. Aus unzähligen YouTube-Videos kannten wir Budget-Reisende, die begeistert von den günstigen Preisen bei Walmart berichteten. Doch unsere Realität sah ganz anders aus: Selbst ungesunde Lebensmittel waren unerschwinglich teuer. Ein einfaches Toastbrot kostete zwischen 8 und 12 Dollar – und da hatten wir uns die gesünderen Produkte noch gar nicht angesehen.
Dieses hohe Preisniveau setzt sich bei den Unterkünften und besonders bei den Mieten fort. Für die lokalen Menschen ist das Leben auf Maui eine enorme finanzielle Herausforderung. Ausgenommen sind natürlich jene, die mit prall gefülltem Konto oder Depot nach Hawaii auswandern. Ich spreche hier jedoch von den Menschen, deren Heimat Hawaii ist.





Work needed – Food please – Babyz hungry
Auf einer meiner morgendlichen Fototouren durch Kihei traf ich Nancy. Ich schätze, sie ist in etwa in meinem Alter. Sie wirkte selbstbewusst, fast schon kämpferisch, und doch lag in ihrem Blick etwas Verletzliches. Nancy war schwanger und stand mit einem Einkaufswagen am Straßenrand.
Immer wieder suchte sie den Blickkontakt zu den vorbeifahrenden Autofahrern – in der Hoffnung, gesehen zu werden. In der Hoffnung, dass jemand ihr Schild liest. Darauf stand in großen Buchstaben: „Suche Job. Mein Baby hat Hunger.“

Gespräch mit Nanxy
Interessiert lief ich auf sie zu, wünschte ihr einen guten Morgen und fragte, wie es ihr gehe. Sie antwortete mit dem obligatorischen: „Very good, it’s a sunny day.“
Ich versuchte, ein Gespräch mit ihr zu beginnen, und deutete auf ihr Schild. „Das klingt sehr hart“, sagte ich. Sie nickte nur und meinte: „So ist das Leben hier im Paradies.“ Nach und nach öffnete sie sich, merkte, dass es mir ernst war und ich wirklich an ihrer Geschichte interessiert war.
Im Laufe des Gesprächs erzählte sie mir, wie schnell man auf Maui seine Wohnung verlieren kann – und wie es bei ihr selbst geschah. Sie wurde schwanger, ihr Freund verschwand, und ihr Arbeitgeber wollte keine werdende Mutter weiter beschäftigen. Ohne Job konnte sie die Miete nicht mehr zahlen, und plötzlich blieb nur noch die Straße.
Nancy lebte nicht immer auf Maui. Vor ein paar Jahren zog sie von der US-Westküste auf die Insel. Ihre Familie kehrte später zurück aufs Festland, sie aber blieb – im vermeintlichen Paradies. Heute reicht ihr Geld nicht einmal mehr für ein Rückflugticket.
Gespannt hörte ich ihr zu. Dann stellte sie mir eine direkte Frage: Ob ich wisse, warum sie keinen Job bekomme. Im Grunde wussten wir beide die Antwort. Sie wollte, dass ich die harten Realitäten laut ausspreche – dass ich mich dieser Wahrheit stelle. Vorsichtig tastete ich mich heran. Als ich sagte, dass wohl ihre Schwangerschaft ein Grund sei, klatschte sie in die Hände.
„Und der andere Grund?“ fragte sie mit einem Blick, der keinen Zweifel ließ. Nancy trägt ihn ihr Leben lang mit sich: ihre Hautfarbe. Es spielt keine Rolle, dass sie gepflegt ist, Charisma hat, klug formuliert und eine beeindruckende Ausstrahlung besitzt. Die Tatsache, dass sie eine schwarze Frau ist, überlagert all das – und macht ihr Leben hier ungleich schwerer.


In den nächsten Minuten sprachen wir über Rassismus – über seine Ursachen und den blanken Unsinn dahinter. Nancy blieb auch hier in ihrer angenehm-provokanten Art. Immer wieder betonte sie, wie absurd die Begriffe „schwarz“ und „weiß“ eigentlich sind. Ihre Haut sei schließlich alles andere als schwarz, und meine Hautfarbe habe ebenso wenig etwas mit weiß zu tun.
In einem Punkt waren wir uns sofort einig: Rassismus ist eine der bösartigsten Erfindungen der Menschheit. Auf Maui wird zudem schmerzhaft deutlich, wie sehr das Leben vom puren Zufall abhängt. In welche Familie wird man hineingeboren? Mit welcher Hautfarbe? Und befindet man sich im richtigen Moment am richtigen Ort – oder eben am falschen?
Nancy erzählte von Bekannten, bei denen schon eine ausgebliebene Gehaltserhöhung genügte, um ins Straucheln zu geraten. Die Miete stieg weiter, das Einkommen blieb gleich – und schneller, als man es sich in Deutschland überhaupt vorstellen kann, steht man auf der Straße. Manchmal nur vorübergehend, bis sich eine neue und bezahlbare Wohnung findet. Aber oft eben auch länger.
Mit offenen Augen auf Hawaii reisen: Einkaufswagen, Parkbänke und Campervans
Ich hätte noch stundenlang mit Nancy weiterreden können. Doch einerseits verlor sie durch unser Gespräch die vorbeifahrenden Autofahrerinnen und Autofahrer aus dem Blick – und damit vielleicht die Chance auf ein Jobangebot. Andererseits wartete meine Freundin bereits in unserer Unterkunft auf das Frühstück. Also gab ich Nancy noch etwas Geld, wünschte ihr von Herzen alles Gute und verabschiedete mich.
Für mich war Hawaii ohnehin nie das „Paradies auf Erden“. Aber spätestens nach diesem Gespräch fällt es mir schwer, Maui noch mit diesem Begriff in Verbindung zu bringen. Offenbar stimmt es: Der amerikanische Staat nimmt auf die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft kaum Rücksicht.
Und es ist nicht nur die Politik. Auch in Teilen der Gesellschaft scheint Empathie Mangelware zu sein. „Was kümmert mich das Leid anderer, solange es mir gut geht?“ – diese Haltung spiegelt sich zumindest in einem Sticker wider, den ich nur wenige Meter von Nancy entfernt auf einem Auto las.

Durch das Gespräch mit Nancy wurden mir die Menschen, die ein ähnliches Schicksal teilen, viel sichtbarer. Auf verschiedenen Parkplätzen entdeckte ich Menschen, die zumindest noch einen Van besaßen und diesen notdürftig zu einem Schlafplatz umgebaut hatten. So hatten sie wenigstens ein wenig Schutz und Privatsphäre. Andere übernachteten auf Parkbänken, wieder andere zogen ohne feste Unterkunft von Ort zu Ort. Man sah sie entweder mit Einkaufswagen entlang der Highways oder an Stränden, die für Touristinnen und Touristen paradiesisch wirken – für sie jedoch kaum etwas Paradiesisches hatten.



Für wen ist Hawaii ein Paradies?
Auf den ersten Blick ist Hawaii ein wahres Paradies. Doch wer mit offenen Augen reist, erkennt schnell, dass dieser schöne Schein trügt. Das gute Leben bleibt jenen vorbehalten, die schön und reich genug sind, es sich leisten zu können.
Das ursprüngliche Hawaii, von dem viele träumen, ist immer schwerer zu finden. Stattdessen dominieren luxuriöse Villen und teure Autos das Bild. Ich sah eine Realität, die mit meiner eigenen Lebenswelt nichts gemein hat – und vielleicht werde ich es mir in Zukunft nicht einmal mehr leisten können, dieser Realität auf Hawaii noch einmal zu begegnen.
Soll unser Planet so aussehen? Ich finde nicht. Jeder Mensch sollte ein Leben führen dürfen, das lebenswert ist.
Auch wenn ich wohl nie erfahren werde, wie es Nancy ergangen ist, wünsche ich ihr von Herzen alles Gute. Möge sie ein gesundes Kind zur Welt gebracht haben – und möge es ihr gelingen, ihm ein Leben voller Würde und Zufriedenheit zu ermöglichen.