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In 80 Tagen um die Welt – Erzählt an einer Kreuzung in Manhattan: Rians 9/11

Als wir an einer Kreuzung mitten in Manhattan warteten und ich gerade ein paar Fotos mit meiner Kamera machte, kam ein Mann auf mich zu und fragte, mit welchem Modell ich fotografiere. Ihm war die kompakte Größe meiner Sony RX100 VII aufgefallen – und er war ganz begeistert von der Kamera.

Nur ein paar Minuten später wussten wir, dass wir mit Rian aus Manhattan sprachen. Ganz selbstverständlich bot er uns an, kostenlos in seiner Wohnung zu wohnen – er brauche den Platz momentan nicht. Zunächst tauschten wir ein wenig Smalltalk aus, bis wir ihm erzählten, dass wir gerade vom 9/11 Memorial kamen und noch dieses mulmige Gefühl in uns trugen.

Daraufhin erzählte er uns – an dieser trubeligen Kreuzung mitten in Manhattan – seine ganz persönliche 9/11-Geschichte.

Unser Besuch im 9/11 Memorial and Museum

Der 11. September 2001 veränderte rückblickend unseren Planeten. Alle Menschen, die damals mindestens in meinem Alter waren, können sich meist noch ganz genau daran erinnern, was sie gerade taten, als sie von den Terroranschlägen auf die Zwillingstürme des World Trade Centers in Manhattan erfuhren.

An jenem Tag entführten islamistische Terroristen vier Passagierflugzeuge und steuerten sie in das World Trade Center, das Pentagon und ein Feld in Pennsylvania. Die Anschläge forderten tausende Todesopfer und veränderten die Welt nachhaltig. Besonders präsent bleibt das Einstürzen der Zwillingstürme – wir alle waren damals fassungslos und konnten solch einen grausamen Angriff kaum in unser Gedankenmuster einordnen.

Als ich das erste Mal in New York war, sah ich ein riesiges Loch an dem Ort, wo zuvor die Türme standen. Stattdessen fand ich das Mahnmal und den Trauerort Ground Zero vor.

Im Jahr 2024 war deutlich zu erkennen, wie viel sich innerhalb von zwanzig Jahren verändert hat. Aus der Baustelle war ein großer, gepflegter und stiller Ort geworden. Zwei riesige Brunnen markieren nun die Stellen, an denen einst die Türme standen. Die Menschen gehen still und nachdenklich über das Gelände. Es wird kaum gesprochen – höchstens geflüstert. Die Brunnen ziehen die Blicke auf sich. Die Namen der Opfer, die in die Ränder eingelassen sind, werden gelesen. Man gedenkt in Stille.

Unter dem Platz befindet sich ein beeindruckendes Museum – ein Ort des Erinnerns. Die Ausstellung ist umfangreich und eindrucksvoll gestaltet. Zahlreiche Exponate stammen direkt von den Straßen des zerstörten Manhattans. Hier kann man viel Zeit verbringen, in die Geschehnisse eintauchen und den Opfern dieses schrecklichen Tages würdevoll gedenken.

Es ist ein wirklich besonderer Ort – einer, den unsere Welt jedoch niemals hätte brauchen sollen.

So verbrachte Rian 9/11

Ein wunderschönes Gespräch an einer Straßenecke in Manhattan

Wir unterhielten uns eine ganze Weile an einer Kreuzung in Manhattan und kamen von einem Thema aufs nächste. Man merkte schnell, dass wir uns gegenseitig sympathisch waren und ehrliches Interesse an unseren Lebenswelten zeigten.

Rian lebte schon seit vielen Jahren in New York und arbeitet in der IT-Branche. Er besitzt eine der wenigen AirBnB-Lizenzen in Manhattan und lud uns spontan ein, kostenlos bei ihm zu wohnen. In einer Stadt, in der alles so teuer ist, eine großzügige Geste. Ein wenig enttäuscht schaute er allerdings, als wir ihm sagten, dass wir schon in zwei Tagen zurück nach Deutschland fliegen würden – unsere Weltreise neigte sich dem Ende zu, und in vier Tagen begann für uns wieder der Alltag.

Im Laufe des Gesprächs erzählten wir ihm auch, dass wir am Vormittag das 9/11 Memorial und Museum besucht hatten. Er spürte, wie sehr uns dieser Ort bewegt hatte. Ich erzählte ihm, dass ich noch genau weiß, was ich an jenem Tag gemacht habe: Ich war mit meiner Mutter einkaufen – den Rest des Tages verbrachten wir wie gebannt vor dem Fernseher. Wir sahen live, wie das zweite Flugzeug in den Südturm flog. Es war ein Moment, den ich nie vergessen werde.

„Ich dachte, es sei ein Film.“

Auf unsere Frage, ob er damals schon in New York gelebt habe, antwortete er mit Ja – doch er war am 11. September 2001 nicht in der Stadt. Er reiste damals durch Kenia. Vor einem kleinen Café sah er auf einem Fernseher die Bilder des Anschlags und dachte zuerst, es handele sich um einen Hollywoodfilm. Keinen, den er kannte – aber einen, der offenbar in New York spielte und in dem ein Flugzeug ins World Trade Center flog. Erst beim genaueren Hinsehen wurde ihm klar, dass das keine Fiktion war, sondern brutale Realität.

Er konnte damals keinen Kontakt zu Freunden und Bekannten in New York aufnehmen – die Angst und Ungewissheit waren groß. Wie würde dieser Anschlag sein Leben und die Stadt verändern?

Eine Entscheidung rettet ein Leben

Später erfuhr er, dass ein guter Freund von ihm sich zum Zeitpunkt des ersten Einschlags bereits an seinem Arbeitsplatz befand. Das Flugzeug traf den Nordturm zwischen dem 94. und 98. Stockwerk – sein Freund arbeitete im 74. Stock, etwa 20 Etagen darunter. Der Alarm ging los, und die Menschen wurden aufgefordert, das Gebäude schnellstmöglich zu verlassen.

Über eine Stunde war er unterwegs nach unten. Als er das Erdgeschoss endlich erreicht hatte, teilte das Sicherheitspersonal den Menschen mit, dass die Lage unter Kontrolle sei – sie sollten per Aufzug zurück in ihre Büros fahren. Rians Freund wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, dass es ein Flugzeug gewesen war, das den Nordturm getroffen hatte. Er wusste auch nicht, dass bereits ein zweites Flugzeug den Südturm getroffen hatte. Er hatte keine Ahnung vom Ausmaß der Katastrophe.

Doch er hatte ein starkes Bauchgefühl. Er widersetzte sich der Anweisung und verließ das Gebäude endgültig – eine Entscheidung, die ihm das Leben rettete. Viele seiner Kolleginnen und Kollegen hatten dieses Bauchgefühl nicht und kehrten zurück in ihre Büros.

Draußen auf den Straßen rund um das World Trade Center wurde ihm das ganze Ausmaß der Anschläge bewusst. Chaos herrschte, niemand konnte begreifen, was da gerade geschah. Die Menschen waren verängstigt und wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Er selbst versuchte einfach, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und die Türme zu bringen – eine weitere Entscheidung, die ihm das Leben rettete. Keine 30 Minuten nachdem er das Gebäude verlassen hatte, stürzte der erste Turm ein. Eine riesige Staubwolke breitete sich über Manhattan aus und verwüstete diesen einst so lebendigen Stadtteil.

Erst in diesem Moment wurde ihm klar, welches unfassbare Glück er gehabt hatte – ein Glück, das fast 3.000 anderen Menschen an diesem Tag verwehrt blieb.

Chaos, Angst und ein unsichtbarer Schleier

Obwohl dieser schwarze Tag in der Geschichte der USA im Jahr 2024 schon fast ein Vierteljahrhundert zurückliegt, war Rian beim Erzählen der Geschichte seines Freundes sichtlich bewegt. Seine Augen wurden feucht, seine Stimme zitterte.

Als er nach den Anschlägen nach New York zurückkehrte, erkannte er seine Stadt kaum wieder. Neben der sichtbaren Zerstörung eines ganzen Stadtteils lag ein unsichtbarer Schleier aus Trauer und Angst über der Stadt. Die ersten Wochen nach dem Anschlag waren für ihn und seine Freunde wohl kaum zu ertragen.

Wir hörten ihm gebannt zu. Die Geräusche der Kreuzung um uns herum verschwanden in der Ferne. Als er die letzten Worte seiner Geschichte aussprach, entstand ein kurzer Moment der Stille. Wir alle drei waren tief bewegt – und gleichzeitig dankbar dafür, dass wir uns im Jahr 2024 hier in New York begegnet sind.

Eine Begegnung, die nur das Leben schreiben kann

Wir bedankten uns bei Rian dafür, dass er seine Geschichte mit uns geteilt hatte. Ich glaube, auch er spürte, wie sehr wir das Gespräch schätzten – dass wir uns bewusst Zeit für ihn nahmen (so wie er sich auch für uns) und echtes Interesse an seinem Leben zeigten.

Es war eine dieser Begegnungen, die man nie vergisst – eine, die sich tief einprägt und die für mich den wahren Wert des Reisens ausmacht.

Nach sicherlich 30 Minuten an dieser belebten Kreuzung in Manhattan verabschiedeten wir uns herzlich. Wir tauschten sicherheitshalber unsere Telefonnummern aus – für den Fall, dass wir noch einmal nach Manhattan kommen würden und bei ihm übernachten könnten. Und für den nicht ganz unwahrscheinlichen Fall, dass Rian einmal eine Unterkunft in Deutschland braucht, gab ich ihm meine Handynummer.

Noch während der Verabschiedung unterbrach er uns kurz und erzählte, dass er schon mehrmals in Prag gewesen sei. Sollte er wieder einmal dorthin reisen, könne er uns mit seinem Hotelstatus ein kostenloses Zimmer buchen. Einfach so. Großzügig. Selbstverständlich.

Und genau das zeigt es wieder: Die Menschen, denen man auf Reisen begegnet, machen eine Reise erst zu etwas Besonderem. Ich bin unglaublich dankbar für diese schöne Begegnung an einer scheinbar ganz gewöhnlichen Kreuzung mitten in Manhattan.

P.S.: Neben meinem Schreibtisch liegt noch immer das fotografierte Portrait von Rian. Eigentlich wollte ich es schon längst nach New York geschickt haben. Vielleicht ist dieser Blogpost der perfekte Anlass, es in den nächsten Tagen endlich zur Post zu bringen.

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