
Brooklyn ist bunt, laut und kreativ – doch mitten in diesem pulsierenden Stadtteil von New York liegt ein Ort, der sich ganz anders anfühlt: Williamsburg.
Hier, nur wenige U-Bahn-Stationen von Manhattan entfernt, scheint die Zeit stellenweise stehen geblieben zu sein. Männer mit schwarzen Hüten und Schläfenlocken, Frauen in schlichten Kleidern, jiddische Schriftzüge an den Läden – ich tauche ein in das Leben der chassidischen jüdischen Gemeinde.
Wer mich kennt, weiß, dass mich solche Lebensformen – oder besser gesagt: solche Communities – schon immer fasziniert haben. Also nahmen wir die Fähre nach Williamsburg, um uns selbst ein Bild von diesem besonderen Stadtteil New Yorks zu machen.
Während ich nun beginne, diesen Blogartikel über unsere Eindrücke in Williamsburg zu schreiben, läuft im Hintergrund jüdische Musik – eine CD, die ich in Krakau gekauft habe, als wir das Konzentrationslager Auschwitz besucht haben.
Nice to know: Über die jüdische Community in Williamsburg
Williamsburg im Norden Brooklyns ist das Zuhause der ultraorthodoxen Satmar-Gemeinde, einer der größten chassidischen Gruppen weltweit. Schon äußerlich fällt die Gemeinschaft auf: Männer mit Schläfenlocken und Pelzhüten, Frauen in langen Röcken und Perücken – das echte Haar bleibt verborgen. Die strengen religiösen Regeln durchziehen alle Lebensbereiche: Frauen dürfen etwa kein Auto fahren und sollen Männern nicht unbeaufsichtigt begegnen.
Die Satmarer grenzen sich bewusst von der modernen Welt ab. Assimilation gilt in ihrer Glaubensgemeinschaft als Gefahr. Teils wird sogar der Holocaust in diesem Zusammenhang als göttliche Strafe interpretiert. Als Strafe für Anpassung der Gläubigen an die nicht jüdische Welt. Die Bewegung entstand vor über 100 Jahren in Ungarn und fand nach dem Zweiten Weltkrieg in Williamsburg ein neues Zentrum. Auffällig: Die Gemeinde lehnt den Zionismus und den Staat Israel strikt ab – aus tief religiöser Überzeugung.
Diese Informationen habe ich in einem Interview mit Deborah Feldman gefunden. Die US-Amerikanerin, Austeigerin dieser Community und Autorin Deborah Feldman schaffte den mutigen Schritt, sich aus ihrer ultraorthodoxen jüdischen Gemeinschaft zu lösen. In ihrem Bestseller „Unorthodox“ schildert sie eindrucksvoll, wie sie zuvor unter der strengen Kontrolle und den rigiden religiösen Vorgaben der Satmar-Gemeinde lebte.




Mit der Fähre in eine andere Welt: Williamsburgs Satmar-Community
Bevor wir nach Williamsburg aufbrachen, fuhren wir mit der Staten Island Ferry an der Freiheitsstatue vorbei. Danach liefen wir vom Battery Park ein paar Minuten die Küste entlang bis zum Fähranleger Pier 11 an der Wall Street.
Von dort aus ging es mit der NYC Ferry weiter. Zuerst machten wir einen Zwischenstopp in Dumbo, dann fuhren wir bis South Williamsburg (Schaefer Landing). Die Bootsfahrt war wirklich schön. Wieder einmal wurde mir bewusst, wie abwechslungsreich New York ist – diese Stadt überrascht immer wieder. Ich finde, Städte mit Wasserlagen haben generell einen Vorteil: Das Wasser begrenzt einerseits den Raum, schafft aber andererseits Weite und Ruhe. Ruhe, naja – so ruhig wie es in New York eben sein kann. Aber auf dem Wasser fühlt sich alles gleich ein bisschen entschleunigter an.
Schon auf der Fähre fielen uns viele traditionell gekleidete Jüdinnen und Juden auf – ganze Familien, die offenbar einen Ausflug nach Manhattan gemacht hatten. Als wir schließlich in South Williamsburg von Bord gingen, war es dann ganz offensichtlich: Wir waren angekommen in einem Viertel, in dem vor allem ultraorthodoxe Jüdinnen und Juden leben.
Wir ließen erst einmal den Trubel des Fähranlegers hinter uns und setzten uns in den Schaefer Landing Park. Von dort aus beobachteten wir das Treiben – und ließen die Atmosphäre einfach auf uns wirken.




Williamsburg – Ein Stadtteil der Kontraste: Hipp, bunt und aus der Zeit gefallen
Ankommen im Schaefer Landing Park
Es war zwar nicht Schabbat, aber immerhin ein Sonntag, als wir Williamsburg besuchten. Und trotzdem: Viele Jüdinnen und Juden waren auffallend schick gekleidet, flanierten durch den Schaefer Landing Park, posierten für Fotos und genossen sichtlich den sonnigen Apriltag.
Schon hier wurden wir überrascht – oder besser gesagt: positiv irritiert. Denn nach unserem Besuch im ultraorthodoxen Viertel Me’a She’arim in Jerusalem hatten wir mit einem ganz anderen Straßenbild gerechnet. Dort hatten wir eine deutlich verschlossenere Atmosphäre erlebt, mit viel Misstrauen gegenüber Außenstehenden. Hier in Williamsburg hingegen wirkte alles offener, fast schon einladend – auch wenn die Menschen uns kaum beachteten.
Vielleicht sind die Gläubigen hier in Williamsburg tatsächlich ein Stück weit angepasster? Oder liegt es daran, dass New York einfach ein anderer Kontext ist? Wie auch immer – wir empfanden diese entspannte Stimmung als angenehm. Und sie ließ uns neugierig auf den Rest des Viertels werden.



Williamsburg ganz bunt, hipp und köstlich
Wir verbrachten eine ganze Weile mit People-Watching im Park, bevor wir uns aufmachten, den Stadtteil zu erkunden. Da der Tag schon recht fortgeschritten war, machte sich langsam der Hunger bemerkbar. Also suchten wir ein möglichst günstiges Restaurant – fanden zwar keines, dafür aber eine wirklich gute Pizzeria.
In der Motorino Pizzeria teilten wir uns eine leckere Pizza. Und während wir da so saßen, nur wenige Gehminuten vom Pier entfernt, veränderte sich plötzlich das Bild um uns herum: Die typischen Erscheinungsbilder der ultraorthodoxen Gemeinde verschwanden fast völlig. Stattdessen: mehr Brooklyn. Bunt, hip, lebendig – und irgendwie total schön.
Der Blick auf die Williamsburg Bridge ließ unser Brooklyn Level natürlich von 0 auf 100 steigen. Auch Brooklyn, gefiel uns wirklich, wirklich gut.



Zwischen Tradition, Abschottung und Weltstadt – Ein Streifzug durch Williamsburg
Nachdem wir die leckere Pizza gegessen hatten, wollten wir noch tiefer in den Stadtteil Williamsburg eintauchen. Wir liefen einfach drauflos – ohne Plan, aber mit Neugier – und fanden durch Zufall genau die richtigen Straßen. Nur wenige Gehminuten von der Pizzeria entfernt begann eine ganz andere Welt.
Auf den Gehwegen und Straßen begegneten uns immer mehr Menschen in traditioneller Kleidung. Die Männer waren fast ausschließlich in Schwarz gekleidet, mit auffälligen Schläfenlocken und oft langen Bärten. Die Frauen hingegen zeigten ihr Kopfhaar nicht – was man sah, waren meist kunstvoll getragene Perücken. Wenn man genauer hinschaut, fällt auf, dass viele Frauen unter ihrer Kopfbedeckung einen nahezu identischen Haaransatz tragen – ein stilles Indiz für das, was man da eigentlich sieht.
Auch bei den Kindern dominiert Zurückhaltung. Auffällige Farben oder modische Muster sucht man vergeblich – sie tragen ebenso gedeckte Kleidung wie die Erwachsenen.



Es fühlt sich wirklich so an, als würde man in nur wenigen Schritten in eine andere Zeit oder Welt eintauchen. Auf Ladenfronten und Schulbussen prangt fast ausschließlich hebräische Schrift – für mich ein unlesbares Mysterium. Auch moderne Technik ist hier kaum zu sehen. Smartphones? Fehlanzeige. Falls man überhaupt ein Handy entdeckt, ist es ein klassisches Mobiltelefon ohne Internet oder Apps. Neue Medien sind je nach Auslegung des Glaubens tabu – hier läuft alles einen Gang langsamer.



Als wir weiter durch die Straßen schlenderten, kamen wir an einem kleinen Volksfest vorbei. Selbst die Fahrgeschäfte wirkten wie aus einer anderen Zeit. Die Kinder lachten, fuhren Karussell, aber selbst beim Spielen war ihre Zurückhaltung spürbar. Es lag eine ganz eigene, fast stille Atmosphäre über diesem Ort. Und wieder hatte ich das Gefühl: Wir sind zwar da, aber nicht wirklich Teil davon. Mit unserer „normalen“ Kleidung fielen wir definitiv auf – und doch wurden wir kaum beachtet. Es fühlte sich an, als seien wir unsichtbare Beobachter dieser Szene.




Wir ließen das kleine Fest hinter uns. Schritt für Schritt wurde die Umgebung wieder bunter, lauter, offener – Williamsburg, wie man es aus Reiseführern kennt. Und wieder staunte ich über diese Kontraste: Zwischen ultraorthodoxem Alltag und urbanem Hipstertum liegen hier manchmal nur wenige Straßen. New York ist eben voller Welten – und jede davon hat ihren eigenen Rhythmus.




Fazit
Ein Spaziergang durch Williamsburg ist kein gewöhnlicher Stadtbummel – er ist eine stille Begegnung mit einer traditionsreichen Welt, die sich bewusst abgrenzt, sich aber dennoch offenbart, wenn man ihr mit respektvollem Blick begegnet. Mich fasziniert es immer wieder, wie unterschiedlich Menschen ihr Leben gestalten – besonders dann, wenn sie es mit einer solchen Konsequenz tun, wie es in religiösen Gemeinschaften der Fall ist. Auch wenn man nicht alles nachvollziehen oder gutheißen kann – und man Kritik an bestimmten Praktiken nicht ausblenden sollte – finde ich es spannend und bereichernd, in solch eine Welt einzutauchen.
Im Vergleich zu Me’a She’arim, dem ultraorthodoxen Stadtteil in Jerusalem, fühlten wir uns in Williamsburg deutlich „willkommener“. In Jerusalem lag eine gewisse Anspannung in der Luft – vielleicht auch deshalb, weil wir im Vorfeld viele Berichte gelesen hatten, in denen Touristinnen und Touristen von Ablehnung oder sogar Anfeindungen berichteten. Zwar haben wir selbst nichts dergleichen erlebt, doch die Atmosphäre war spürbar distanzierter. Viele Menschen vermieden den Blickkontakt und nahmen uns schlichtweg nicht wahr. Trotzdem fühlten wir uns nie unsicher – denn letztlich gilt auch hier: Die meisten Menschen auf dieser Welt sind freundlich und wollen keinen Ärger.

Auch in Williamsburg begegnete man uns mit Zurückhaltung – aber auf eine andere Weise. Wir fühlten uns nicht ignoriert, sondern vielmehr: geduldet. Wahrscheinlich liegt das auch daran, dass wir uns in New York befanden – in einer Stadt, in der verschiedenste Kulturen und Lebensentwürfe dicht beieinander existieren. Vielleicht sind die ultraorthodoxen Gemeinden hier eher daran gewöhnt, dass Außenstehende durch ihre Viertel spazieren.
Wie auch immer – ein Besuch lohnt sich in jedem Fall. Wer sich auf diese Welt einlässt, verlässt sie mit einem erweiterten Horizont. Wichtig ist nur, dass man sich den örtlichen Gepflogenheiten anpasst: dezente Kleidung, respektvoller Abstand, keine Porträtaufnahmen – und vor allem ein ehrliches, interessiertes Verhalten.
Mit dieser Haltung hatten wir weder in Me’a She’arim noch in Williamsburg Schwierigkeiten.